Feldpostbrief, 16. November 1917
Westkappelle, den 16. November 1917,
Freitagabend um 10 Uhr.
Mein liebes, liebes Lieschen!
Eigentlich möcht's ja besser sein, ich legte mich zu Bett. Die Reise nach Sysseele kann jede Stunde in der Nacht losgehen. Aber dann hätte nicht Dein I. Brief vom Dienstagnachmittag mehr kommen müssen. Sieh ihn Dir selbst nochmals an, Liesi! Die liebe, schöne Schrift! Mir wird sie immer und immer lieber. Und welche Liebe spricht aus den paar Zeilen! Du hast den 13. November nicht vergessen, denkst treu an Deinen Paul u. all das Schwere, was er durchgemacht und noch durchmacht. Wenn doch Gott die Zeiten kommen lassen wollte, daß wir gemeinsam all die besonderen Tage aus der langen Trennungszeit im Gedächtnis nochmal durchleben! Recht, recht oft noch! Und mit unsern lauschenden Buben, denen Du von Deiner Angst und Sorge erzählen wirst und ich vom Schweren hier draußen.
Und dann Deine stillen Vorwürfe im Briefe! Du hast ja vollkommen recht, Liesi! Influenza will ihre Zeit haben. Es ist auch nicht übertriebenes Pflichtgefühl allein bei mir gewesen, was mich so schnell das Bett u. das Zimmer verlassen ließ. Ich glaubte aber, draußen rascher u. gründlicher die Sache loszuwerden. Unglücklicherweise mußte ich ja nun gerade das schwüle Wetter u. den üblen Regen am Meere treffen. Für weiterhin verspreche ich Dir aber alle Vorsicht. Besonders auch für den 6. Tag. Auf den bin ich ja nun selbst sehr gespannt.
Daß ich mit meiner Erinnerung an den Kleiderschrank Überflüssiges u. Unnötiges schrieb, wußte ich ja u. habe ich wohl auch gleich dazu gesagt damals. Ich sehe, daß alles in bester Ordnung ist u. freue mich nur, daß die Motten tatsächlich so wenig Schaden angerichtet haben. Sollten wir den Buben nicht schon aus meiner grauen Einjährigen-Litewka oder aus dem blauen Waffenrock einen hübschen Weihnachtsmantel machen lassen können? Mir würdest Du eine sehr große Freude machen. Überleg's mal, Liesi! Nett müssen meine beiden Jungen sein, wenn ich Weihnachten sollte kommen dürfen. Und mein Lieb natürlich erst recht. Aufs Geld darfst Du da natürlich nicht sehen!
Gar zu gern hätte ich Euch ja Strümpfe u. Schuhe u. Stoffe hier besorgt. Ich habe mich viel bemüht. Aber die Preise sind doppelt so hoch als im August. Ich glaube, für das Sündengeld kauft man besser in Deutschland. Mein kleiner Schuster war in Urlaub. Er wollte Leder für Dich u. Lina u. zu Stiefeln für mich besorgen, hat aber nichts auftreiben können. Da war es in Douai u. in Tournai noch Zeit. Ich denke natürlich auch weiterhin an die Sachen, die ich zu besorgen versprochen habe.
Ob ich noch Zeit und Gelegenheit finden werde? In Sysseele werden wir nur 2-3 Tage bleiben. Dann kommt die Front. Wo, weiß man nicht. Es mag ja auch ziemlich gleichgültig sein. Das Artilleriefeuer ist an der ganzen englischen Front lebhaft. Oft auch oben an der Küste bei Nieuport. Damit wollen die Engländer scheinbar die Italiener entlasten, die nun doch gewaltig in die Enge getrieben werden. In Rußland scheint sich der Friedensfreund Lenin noch zu halten. Wer weiß, ob vom Osten nicht doch noch der Frieden kommt! Oft scheint der Frieden doch so nahe! Und einmal muß er ja doch reifen. Wir Deutschen haben Grund zu hoffen. Englische Minister erklären, daß nach den deutschen Überraschungen auf Oesel u. in Italien mit allem gerechnet werden müsse. Selbst mit einem Einfall in England. Auf gut deutsch: "Italien, hilf Dir selber! Wir haben unsere Not in Frankreich u. im eigenen Lande." Aus eigner Kraft aber kann Italien nicht mehr siegen. Seine besten Truppen sind hin u. seine besten Geschütze. Wenn aber Rußland u. Italien ausfallen, dann wird unsere Westfront stark u. stärker, u. unsere Gegner dürfen hier mit Durchbruch u. Sieg nicht mehr rechnen. Wenn das erst klar wird in England und Frankreich, dann wird man schon nach Frieden schreien. Der Schluß kommt morgen früh. Heißen Dank nochmals, Liesi, für Deinen lieben Brief! "Gott befohlen" u. "Gute Nacht"!
Dein treuer Paul