Feldpostbrief, 9. Mai 1917
Vezon bei Tournai, Rue de Mons, den 9. Mai 1917,
am Mittwochabend um 3/4 11 Uhr.
Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!
Heute Abend kam wieder keine Post von Dir. Nun schon drei Tage nicht. Darum erwartete ich bestimmt einen Brief u. ging gerade deshalb zeitig aus dem Kasino fort. Da ist man dann enttäuscht. Hoffentlich bedeutet's nichts Schlimmes! Auch andere Post kam nicht. Ich schrieb ja aber auch in letzter Zeit so sehr selten. Heute Nachmittag habe ich zwar allerlei alte Schulden erledigt, u. morgen werde ich hoffentlich fertig! Wenn wir nicht schon um 12 Uhr nach Tournai fahren. Ich muß dort noch allerlei einkaufen u. müßte unbedingt baden. Da wirds mit dem Zuge um 1/2 6 zu spät für's Theater. Das beginnt um 8 Uhr. Es gibt Mozarts "Figaros Hochzeit". Ich freue mich mächtig auf die schöne Musik. Ich habe die Oper erst einmal in Detmold gehört, vergesse aber nie den tiefen Eindruck. Mutterseelenallein bin ich in der schönen Mondscheinnacht über den Lageschen Berg durch die einsamen Tannen u. Kieferwälder nach Hause gegangen. Und immer noch klangen die Töne des Meisters in mir wieder. Hoffentlich werde ich morgen nicht enttäuscht.
Draußen war's heute Nachmittag wundervoll! Die Kirschen blühen nun allüberall. Die roten Pfirsiche auch. Schwer hängen die süßen Düfte. Und die junge Saat sproßt u. grünt u. wächst. Als ob man's sehen könnte beinahe. Und drüben an der Front, da hetzt man die Menschen wie Bestien aufeinander. Und unten in der Champagne u. bei Reims, da bluten die letzten französischen Divisionen u. stehen in wilder Verzweiflung Deutschlands Söhne in einem Eisenhagel, wie ihn die Welt noch nie gesehen. Kann der Wahnsinn noch weiter getrieben werden? Sollen Amerika u. China noch eingreifen, ehe das Ende kommt? - - - Gute Nacht, Liesi, u. Gott befohlen!
Dein Paul.