Autoren

1427
 

Aufzeichnungen

194041
Registrierung Passwort vergessen?
Memuarist » Members » Gertrud Mohr » Feldpostbriefe unseres Großvaters, 1916, 4.8

Feldpostbriefe unseres Großvaters, 1916, 4.8

21.11.1916
Haulchin, Frankreich, Frankreich

Feldpostbrief, 23. November 1916

Haulchin bei Valenciennes, den 23. November 1916, 
am Donnerstagnachmittag um 3/4 1 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Daß gestern abend noch Dein lieber Brief vom 15. gekommen ist, habe ich schon geschrieben. Wie lange Du armes Mädchen wohl in Sorge noch gelebt hast! Am 13. u. 14. Nov. habe ich natürlich nicht schreiben können. Und wann und wie mein kurzer Kartenbrief vom Mittwochmorgen (15.11.) fortgekommen sein mag, weiß ich auch noch nicht. Lange hast Du ihn sicherlich noch nicht. Und wieviel hundert andere Frauen und Mütter und Geschwister warten noch heute in schwerster Sorge auf Nachricht! Soeben telegraphierte Meyenbergs Vater um Auskunft. Dem hatte ich aber damals gleich geschrieben. Die meisten Angehörigen wußten doch nach den langen Wochen ziemlich genau, wo wir lagen. Und überall mußte der Heeresbericht vom 15./11. schwere Sorge wachrufen. Als Helmut seine Hände gefaltet hat, da war ich gerettet. Hoffentlich sind's auch alle andern. Bald muß doch Nachricht eintreffen aus der Gefangenschaft. Bis dahin hat man keine Ruhe.

Ich wollte Dir noch über den Abend des 13. weiterschreiben. Als ich mit meinen 4 braven Leuten (auch mein wackerer Tröster ist dabei) glücklich bis an unsere 2. Stellung gekommen war, hoffte ich dort reichlich Verstärkung zu finden. Aber die Gräben waren so dünn besetzt, daß wir unbemerkt hineinkamen. So wenig Posten standen. Wir trafen auf unsere 8. Kompagnie mit knapp 80 Mann. Von denen war nichts zu verlangen. Weil man von unserm Rgts.-Kdr. nichts wußte u. unser Rgts.-Adjutant tot war, bin ich durch ein entsetzliches Artilleriefeuer hindurch zum Nachbarregiment 62 gelaufen. An den Tod haben wir wahrhaftig nicht gedacht. Ich fühlte, daß ich heil durchkam. Der Oberstleutnant der 62er war morgens bereits gefangen gewesen u. arbeitete gerade einen Angriff aus, durch den er am andern Morgen seine verloren gegangene Stellung wieder nehmen wollte. Mir konnte er natürlich keine Kräfte geben. Ich versprach ihm aber, zum andern Morgen von hinten Kräfte heranzuschaffen, damit gemeinsam angegriffen werden könnte am andern Morgen. Ich brach dann aber beinahe zusammen. Es ging bis weit über die Kniee durch Schlamm und Wasser. Ich kam zurück bis zum Kompf. der 8. Komp., u. dort fand sich ein braver Kollege, der Ltn. Feger, der eine Meldung an unsern Rgts.-führer, Hptm. Minck, zurückbrachte, in der ich um Hilfe bat. Fünf wackere Leute nahm er mit. Hingekommen sind alle. Zurückgekehrt ist keiner. Den Rückweg haben ihnen wohl die Engld. schon abgeschnitten.

So wurd's 5 Uhr morgens. Ich mußte dem Rgt. 62 melden, daß ich noch keine Hilfe habe. Als auch um 6 Uhr noch nichts zu sehen war, schickte ich an 9. u. 10. Komp. den Befehl, sich durch Rückzug zu retten. Die hatten aber die Gefahr der Lage nicht erkannt und wollten sich weiter halten, bis Verstärkung käme. Nun blieb mir nichts andres übrig, als selbst zum Hptm. Minck zu laufen. Den Weg hatte ich nie gesehen, von der 8. Komp. war kein Mann mitzukriegen. Nur meine 3 Ordonnanzen wagten's nochmals, u. wieder war Gott mit uns. Von all den Hunderten schwerster Granaten konnte keine auch nur einen von uns verletzen. Aber wir waren falsch gelaufen. Und zu Hptm. Minck konnten wir am Tage nicht. Die 99er,auf die wir trafen, hielten ihn für gefangen. Jedenfalls stand dicht neben seinem Unterstande schon ein engl. Maschinengewehr. Das ließ keinen heran.

Erst am Abd. des 14. konnten wir in der Dunkelheit durch. Da hörten wir dann das Traurige: An die Rettung der beiden Kompagnien hatte man garnicht denken können, weil Truppen fehlten. Ltn. Feger hatte deshalb schon schriftl. Befehl bekommen, daß wir uns zurückziehen sollten. Hätte ich den bekommen, dann hätte ich die beiden schönen Kompagnien selbst geholt, u. alle waren gerettet. Gott hat's anders gewollt. Nun war's zu spät: Auch die 8. Komp. hatte sich schon zurückgezogen, u. so war sogar die 2. Stellung schon verloren. Auch der Batls.-Unterstand des Hptms. Minck wurde abends um 12 Uhr noch fluchtartig verlassen, u. nun kam der traurigste Rückweg, den ich je aus Stellung zurückgelegt habe. Die wahnsinnigsten Gedanken wühlten im Gehirn. Meine brave Kompagnie gefangen, ohne mich! Ich hätte nichts dabei gehabt, wenn eins der dicht platzenden Geschosse der Qual des Gewissens ein Ende gemacht hätte. Dazu kam das Entsetzliche, Furchtbare, das meine Augen geschaut, kam die Sorge ums arme Vaterland. Ich übersah ja genau, was verloren gegangen war, sah, daß die Engländer Riesenerfolge gehabt u. daß bei uns die furchtbarste Verwirrung einriß. Am Nachmittage des 14. suchten 2 Kompagnien 99er einen neuen Graben zu ziehen. Die englische Artillerie fegte unbarmherzig dazwischen. Tote gab's über Tote. 2 Offiziere u. 2 Ordonnanzen sprangen in einen Graben. Ein schweres Schrapnell. Alle 4 lagen. Ein Offz. tot, sein Begleiter auch; der andere Offz. schwer verwundet. Nur ein Mann war heil geblieben. Weil er unten gelegen hatte.

Und dann war ich an Artilleriestellungen vorbei gekommen. Die Geschütze verlassen. Viele Munition noch dabei. Alles kam nun in Feindeshand. Und was geht sonst mit einer Stellung verloren! Die fleißige stetige Arbeit ganzer 2 Jahre, die Riesenunterstände! Nachher liegen unsere armen Leute unter freiem Himmel bei Schnee und Frost und Regen. Und die Engländer sitzen in unsern warmen Unterständen. Sieh, Liesi, da verliert man Mut u. Glauben! Und als ich hörte, daß schon in der Nacht zum 14. ein ganzes Bataillon 144er dem Feinde in die Arme gelaufen sei, ohne daß ein Schuß hat abgegeben werden können - keiner wußte ja, wie weit die Stellungen deutsch und englisch waren! - da habe ich geglaubt, nun gäb's kein Retten mehr. Wohl begegneten uns unterwegs Truppen mehr als gut und nötig! Aber was hilft alles, wenn es zu spät ist. Und die Engländer hatten Mut bekommen. Wenig Verluste und große Erfolge. Sie trommelten in den folgenden Nächten noch einmal so arg als sonst. Sie haben ja auch noch allerlei erreicht. Ich hatte keine Lust mehr, noch Berichte zu lesen. Aber der Durchbruch ist trotz alledem nicht gelungen. Die neuen Truppen haben Übermenschliches geleistet. Wie's jetzt nur aussehen mag dort! Wir hören den Kanonendonner nicht mehr. Aber meine Gedanken sind immer noch am Ancrebach. Dorthin werden sie auch immer wieder zurückkehren.

Die Nacht vom 14. zum 15. habe ich in Bucquoy im Keller, im Bette meines Feldwebels geschlafen. Um 4 Uhr war ich erst dort. Zum Umfallen müde. Ich habe auch wohl einige Stunden geschlafen. Da wurde ich wach u. kam zum ersternmal zum Nachdenken über meine Lage. Allein übriggeblieben! Alle meine treuen Freunde vom I. u. vom III. Batl. weg! Und das II. Batl. hatte ja so Arges nicht miterlebt. Da habe ich mich in wüsten Fiebergedanken im Bette gewälzt wie seither schon oft wieder! Und habe nur meinen Gott gebeten, er möge mir die geistige Gesundheit erhalten u. mich vorm Wahnsinn retten. Haben meine armen Leute noch bluten müssen? Wer gibt mir Gewißheit! Wohl lag die Kompagnie in guten Händen. Ich hatte sie Meyenberg übergeben. Aber die volle und ganze Verantwortung auch für die 10. Komp. trug ich ganz allein. Und beide Kompagnien hätten gerettet werden können noch am Morgen des 14. Nov., wenn ich gewußt hätte, daß keine Hilfe kam. Darüber komme ich nicht hin, und wenn ich noch soviel getan habe. Wenn meine braven Leute gefangen sind, dann mag's gut sein. Sie haben's besser als wir alle. Sie haben ihr Leben gerettet. Aber vorläufig wissen wir noch nichts.

Nur eins ist sicher! Solch eine Kompagnie kriege ich nie wieder! Eben schon kamen 80 Mann Ersatz. Aus Lemgo, Detmold, Salzuflen! Aber keine Lipper dabei. Münsterländer u. Rheinländer. Meist Katholiken. Aber sonst kräftige Leute, die alle schon im Felde waren! Möge ein treuer Gott mir die Kraftgeben, die Leute recht zu erziehen, ihnen den alten guten Geist treuester Pflichterfüllung bis zum Tode einzuimpfen! An Fleiß u. gutem Willen soll's nicht fehlen. Laß uns weiter auf den alten treuen Gott vertrauen, Liesi, der mich so wunderbar geleitet hat. Wir wollen noch mehr als sonst beten. Er wird uns nicht verlassen. Du schreibst ja, daß ohne seinen Willen nichts geschieht.

Herze und küsse mir meine lieben Jungen, Liesi! Vor allem aber sei Du herzlichst gegrüßt u. heiß geküßt von Deinem dich

treu liebenden Paul.

17.03.2013 в 13:18


Присоединяйтесь к нам в соцсетях
anticopiright
. - , . , . , , .
© 2011-2024, Memuarist.com
Rechtliche Information
Bedingungen für die Verbreitung von Reklame