05.06.1915 La Bassée, Frankreich, Frankreich
Feldpostbrief, 5. Juni 1915
Sonnabd., nachm. 1/2 5 Uhr
Mein liebes Lieschen!
Jetzt ists also beinah 12 Stunden später. Wir haben bis 1/2 2 geschlafen, haben gegessen u uns gewaschen. Dann habe ich ein paar Karten beantwortet, die gestern Abd. doch noch mitgekommen waren. Von Onkel Fritz, Mine Hackemack u. Fr. Wortmann. Dessen Onkel ist ja hier auch gefallen u. ruht mit all den vielen anderen Lippern auch auf dem Soldatenfriedhof in Illies. So hat doch eigentlich das kleine Nienhagen schon verhältnismäßig viele Opfer bringen müssen. Und doch ists noch am traurigsten um den lieben Fritz Kordhanke. Daß er noch lebt, ist ja nun eigentlich nicht mehr anzunehmen. Aber auch über sein Ende wird man wohl nie etwas Bestimmtes erfahren. Und das ist doch eigentlich das Härteste für die Angehörigen. Mit feststehenden Tatsachen - u. seien sie noch so hart - findet sich das Herz immer leichter u. schneller ab, als mit so Ungewissem - selbst, wenn noch Hoffnungsschimmer bleiben. Kordhanke tut mir sehr leid.
Wie wirds nun mit Theos Leiche werden? Gelegentlich habe ich auch mit Kameraden über die Angelegenheit gesprochen. Aber alle - ohne Ausnahme - sagen: Nicht die Ruhe der Toten stören! Und wenn der liebe Theodor nicht so schön läge! Ich schriebs ja. Ich sehe schon im Geiste, wie das dankbare Vaterland all diese Ruhestätten seiner Helden würdig schmücken wird. Ich habe in Noyon und anderswo auf Friedhöfen Namen von bekannten Grafen- u. Adelsgeschlechtern gelesen. Niemand wird jetzt oder später daran denken, die sterblichen Überreste der Gefallenen in die Heimat zu holen. [...] Was hilfts uns, wenn wir den Grabhügel, der unser Liebstes birgt, in nächster Nähe haben? Gewiß, dort läßt sichs beten besser als anderswo. Dort kann man sich ausweinen - satt und leichter als auf jedem anderen Fleck Erde. Man kann das Grab oft u. schön mit Blumen u. anderen Zeichen der Liebe schmücken. Aber sind wir dem Toten selbst darum näher? Fühlen wir uns deshalb inniger mit ihm verbunden? Nein, das, was unsterblich an uns ist, - nenns Seele, nenn es Geist - das umschwebt uns stets, wenn die treue Erinnerung uns mit dem verbindet, was der Tote in seinem Leben war. Und wer so großes Opfer hat gebracht, daß er sein Liebstes hinausziehen ließ in den Reihen der deutschen Söhne, daß er das Liebste bluten und sterben ließ zwischen Kameraden u. Freunden - der sollte auch noch das Opfer bringen, daß er den Gefallenen ruhen läßt auf dem Felde, das man das Feld der Ehre nennt.
Der Krieg macht alle gleich. Der Tod erst recht. Wenn wir im Schützengraben liegen, Mann an Mann - was heißt da Stand u. Rang? Und sieh, Liesi: Die allermeisten Deutschen können die Leichen ihrer Söhne nicht holen lassen. Und die es könnten, sollten es lassen. Das heißt doch eigentlich: Unterschiede noch im Tode machen. Und Unterschiede sollen und müssen wir verwischen. [...] Ich glaube fest und sicher: Deutschlands Glück und Zukunft wird davon abhängen, ob wir Brücken schlagen gelernt haben über all die unglücklichen Klassen, die Gegensätze u. Abgründe, die die Volksschichten trennen. Anfänge sind gemacht. Und wenn der Krieg selbst nicht zu Ende führt, was jetzt begonnen, dann kommts nicht zu einem Ende. Und glaube keiner, daß die Liebe in den unteren Volksschichten geringer ist als oben. Ich habe rührende Briefe für unsere Leute gelesen von Weib u. Kind, von Vater u. Mutter!
Nun will ich schließen, I L.! Gott befohlen! Grüße an Paulchen u. Helmut! Grüße aber auch die l. Eltern, Lina u. Dina, He. Echterling! Heißesten Treuekuß aber Dir, m. l. Lieschen!
Dein ewig dankbarer Paul.
11.03.2013 в 09:42
|