Foto - Paul Diekmann mit Bewohnern eines Hauses in Frankreich, in dem er einquartiert war um 1915
Feldpostbrief, 1. Juni 1915
Im Schützengraben vor La Bassée, 1. Juni 1915, Dienstagabend 6 Uhr.
Mein herzliebes Lieschen!
Etwas gemütlicher wars heute schon hier im Schützengraben. In vorheriger Nacht haben sich unsere Leute, so gut es ging, Deckungen gebaut. In der letzten Nacht haben wir 6 Leute angestellt, die uns ein kleines Stübchen hergerichtet haben. Klein! So lang, daß man eben gerade liegen kann. So breit, daß neben mir auch noch Wegener liegen kann u. so hoch, daß man auf dem Fußboden wenigstens sitzen kann, ohne mit dem Kopfe ständig anzustoßen. Und doch gefällts uns hier. Der Fußboden hat Dielen, die drei Wände und die Decke sind gleichfalls mit Brettern abgekleidet. Nach vorn ist das Loch offen, aber wir könnens doch leicht mit einer Zeltbahn verhängen. Und wenn die Sonne scheint, dann lassen wir ihre Strahlen ein. Es ist dann doch auszuhalten. Auf dem feuchtkalten Fußboden hätte mans nicht lange mehr ausgehalten. Das ist nämlich gerade das Trostlose in dieser Gegend, daß alles Sumpf und Moor ist. Höchstens 1 m tief stößt man auf Grundwasser. Darum lassen sich so sehr schlecht Schützengräben und Deckungen anlegen. Es ist ganz anders wie bei Reims.
Aber wir wollen geduldig ausharren. Die armen Leute aber, die hier den Winter haben zubringen müssen! Es muß doch furchtbar gewesen sein! Außerdem haben wir die stille Hoffnung, daß wir nicht gar zu lange bleiben. Wenns aber so friedlich bleibt, wie es hier augenblicklich ist, dann kann mans schließlich auch schon aushalten. Und so friedlich solls eigentlich immer gewesen sein, außer kurz vor Weihnachten mal und jetzt bis zum 9. Mai, wo die Engländer hier so furchtbar angegriffen haben. Wir wußten das ja auch von Theodor.
An Stuhl und Tisch und Kiste fehlts vorläufig noch hier in unserer Deckung. Ich sitze deshalb auf der Erde und schreibe auf einem Buche auf den Knien. Wenns so nicht mehr geht, dann lege ich mich lang hin, strecke Kopf und Brust aus unserer Haustür in den Graben und schreibe auf einem Brettchen. Das geht alles. Aber es weckt doch auch sehr die Sehnsucht nach Haus und Herd, wo's so gemütlich war u. traut. Du meintest neulich, m. Liebling, der Krieg sei ein Erzieher. Ja, mir ist er's in mehr als einer Beziehung geworden. Wenn man sich auch nur ein einziges Mal im Hause nicht ganz wohl fühlen sollte, dann tut man bitteres Unrecht. Gebe Gott, daß ich dieses Unrecht nie mehr begehe!
Ich glaubs auch nicht. Wie wir uns lieben, Lieschen, wissen wir. Kann das je wieder anders werden? Und dann unsere Lieblinge, so lieb und drollig! Wie freut mich jedes Mal, daß Bubi gesprochen hat! Allerdings höre ich ja nur das Gute, nicht das Böse von ihm. Aber welch herrliche Aufgabe vom Himmel ist es, ihn u. klein Helmut zu guten Menschen zu erziehen! Werden wir sie erfüllen können? Wir beide zusammen gewiß, Liesi, wenn wir uns einig sind und treu. Jedem allein wirds schwerer fallen. Aber möglich sein muß es doch auch!
Die Sehnsucht nach Euch nimmt oft meine ganzen Sinne gefangen, füllt häufig all' meine Träume aus. Und da habe ich denn trotz Allem das Gefühl, daß ich Euch recht bald wiedersehe. Du erwartest vielleicht von mir, Lieschen, daß ich wie früher häufiger mal über die allgemeine Lage schreibe. Das kann ich nicht. Wir sind hier wie von der Welt abgeschnitten. Erfahren kaum mal die neuesten Kriegsnachrichten. Und die wenigen Zeitungen, die wir kriegen, sind alt. So kommts denn, daß wir viel weniger wissen als Ihr wißt. Nur haben wir alle die Hoffnung, daß Italien jetzt auch nicht so sehr viel mehr schaden kann. Und ob seinetwegen der furchtbare Krieg nun doch sehr viel länger dauern wird, ist vielleicht auch noch zweifelhaft. Hoffen wollen wir's nicht. Bisher hat man in Kreisen, die es wissen müßten, mit einem Frieden in 3-4 Monaten gerechnet. Und das wäre ja noch auszuhalten. Und wir wollten nicht murren und unzufrieden sein! Aber nur nicht nochmals einen Winterfeldzug! Wer hielte da aus?
Daß ich, m. I. L., als Kompagnieführer allerlei Mehrarbeit habe, schrieb ich schon. Man trägt ja schließlich für alle u. für alles die Verantwortung. Ist das in Zeiten der Ruhe u. d. Erholung schon nicht leicht, so erst recht in Zeiten der blutigen Angriffe. Aber Gott hat gnädig gewaltet über unsere Kompagnie! Allen kommts wie ein Wunder vor, daß unsere ja leider viel zu großen Verluste nicht fünfmal so hoch sind! Und die vielen Verwundeten sind gottlob alle nur leicht verwundet, u. wir werden sie gottlob recht bald wiederhaben. Auch von den Schwerverwundeten ist bisher keine schlimme Nachricht gekommen. Hoffentlich kommen alle mit dem Leben davon.
Daß ich August [Anm.: Bruder der Adressatin] hier noch nie getroffen habe, schrieb ich schon. Es ist auch sehr fraglich, ob ich ihn überhaupt treffe. Die Truppen liegen hier weit auseinander, u. womöglich sind wir beide stets gleichzeitig im Graben. Sobald als möglich, suche ich ihn natürlich auf. Vorläufig liegen wir noch im Graben. Ob wir morgen - nach 5 Tagen - wirklich abgelöst werden, ist wohl immer noch nicht sicher. Wenn ja, m. I. L., dann gibts morgen nur einen kurzen Brief. Das Schreiben im Liegen ist doch zu schwer.
Und doch hab ichs so gern getan. Schreib Du auch recht oft, Herzblatt! Deine l. Briefe sind doch das Schönste für mich. Grüße alle Lieben und küsse unsere Jungen!
Auch Dir heiße Grüße und Küsse!
Dein dankb., treuer Paul.