Unser Großvater Paul Diekmann, geboren am 19.09.1881, war für uns Enkelkinder ein fast Unbekannter. Er fiel am 30.11.1917 bei Cambrai. Erst nach dem Tode unserer Großmutter Luise Diekmann, die 1987 mit 97 Jahren starb, ist er uns durch seine Briefe, die er während des Ersten Weltkrieges fast täglich an seine Frau geschrieben hatte, vertraut geworden.
Er war in seinem Hauptberuf Lehrer in Nienhagen, heute Ortsteil von Detmold/Lippe; im Krieg war er Leutnant und Kompanieführer. Seine Briefe sind ein beeindruckendes Dokument des furchtbaren Stellungskrieges in Frankreich und Belgien. Später wollte er, so unser Eindruck, diese sorgfältig datierten Briefe zusammen mit Fotos und Karten von Kriegsschauplätzen auswerten, vielleicht auch veröffentlichen.
Unsere Großeltern Paul und Luise Diekmann haben am 26. Mai 1911 geheiratet. Unser Vater Paul wurde 1913, sein Bruder Helmut 1914 geboren. Die Kinder haben mit ihrem Vater nicht viel Zeit gemeinsam gehabt: Seit Kriegsbeginn konnte er die Erziehung seiner Söhne nur durch Briefe und während weniger Urlaubstage beeinflussen. Nach seinem Tode musste unsere Großmutter ihre Söhne allein erziehen und versuchte, das im Sinne ihres verstorbenen Mannes zu tun. Mit großer Liebe hat sie sich während ihres langen Lebens bemüht, ihren Söhnen und später uns Enkelkindern ihren Mann in Erzählungen lebendig zu halten; dabei hat sie ihn - nicht immer zur reinen Freude ihrer Kinder und Enkel - oft als mahnenden Erzieher dargestellt und sicher ein überhöhtes Bild gezeichnet. Für uns Enkel war unser Großvater vor allem der ernst und ein wenig traurig blickende Soldat auf dem riesigen Portraitfoto über dem Sofa.
Als wir die Briefe das erste Mal lasen, wurde uns bewusst, dass unsere Großmutter in ihren Erzählungen einen 36-Jährigen für uns zum Großvater gemacht hatte, einen Mann, der jünger war als wir damals beim Lesen. Eingedenk dessen, was wir als 30-Jährige gedacht und getan hatten und später kritisch hinterfragten, empfanden wir mit Trauer, dass unsere Großmutter in lebenslanger Treue an einem Bild ihres Mannes festgehalten hatte, das er nicht mehr hatte verändern können.
Die Rettung eines Teiles der Briefe geht zurück auf die Schilderung unserer Mutter, wie unsere Großmutter nach dem Lesen in den Briefen ihres gefallenen Mannes gebeugt vom Mülleimer zurück gekommen war, in den sie die gerade gelesenen Briefe geworfen hatte. Jetzt, 60 Jahre nach dem Tode ihres Mannes, wollte sie die ihr so wichtigen Briefe vernichten; offenbar um uns Enkel nicht damit zu belasten. Dieses Bild der von Gram niedergedrückten alten Frau war uns Anlass, ihr das sorgsame Hüten der Briefe - in denen sie meist Liesi oder Lieschen genannt wird - zu versprechen. Bis zu ihrem Tode 1987 hat sie weiterhin häufig in den Briefen gelesen.
Wir freuen uns, über das Deutsche Historische Museum/LeMO einen Weg gefunden zu haben, den Wunsch eines längst verstorbenen jungen Mannes zu erfüllen, seine Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken auch anderen zugänglich zu machen und damit zugleich an die Schrecken und Folgen eines entsetzlichen Krieges zu erinnern
Die Originalunterlagen sind zugänglich im
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen / Staats- und Personenstandsarchiv Detmold
Feldpostbriefe von Mai bis Dezember 1915
Feldpostbrief, 26. Mai 1915
Salomé b/La Bassée, d. 26. Mai 1915, Mittwochabend 3/4 10 Uhr.
Mein teures, heißgeliebtes Mädchen!
Soeben komme ich von Sainghin zurück, wo die aktiven 55er jetzt in Ruhe liegen. Ich habe nur schnell noch gegessen.
In der furchtbaren Hitze wars eine Wohltat, daß ich Wagen und Pferd zur Verfügung hatte. Es war ein ziemlicher Weg. Ich fragte zuerst nach Rudolf Dickewied. Der war vor 3 Tagen nach Deutschland gekommen. Dann nach Georg Junker. Der war 1 Stunde vorher ins Lazarett transportiert. Die Nerven haben nicht mehr wollen. Aber dann hatte ich Glück. Der erste Offizier, den ich anredete, war Ltn. Schulz, ein blutjunger Mann. Der hatte mit Theodor [Anm.: Verlobter der Schwester der Adressatin] und Leutnant Thümmel in demselben Unterstande gelegen, als die unglückliche Granate eingeschlagen ist, die Theodor getötet und die beiden anderen Offiziere leicht gestreift hat. [...] Nachher habe ich auch noch Akemeier und Linke und Nordsiek getroffen. Letzterer war mit zum Militärfriedhof. Linke hat mir versprochen, Theos Grab baldmöglichst zu photographieren und Euch ein Bild zu schicken.
Der liebe Theodor ruht schön unter Gottes blauem Himmel. In einem Rondell ruhen die gefallenen Offiziere des Regimentes. Nicht weit von Theodor liegt auch Richard Schäfer. Und daneben in langen, langen Reihen, Kreuz an Kreuz, die wackern Helden vom stolzen Regiment. Gar nicht weit von Theos Grabe Koll. Worth. So liegen keine 20 m auseinander 3 liebe Krieger aus Heiden. Wenn erst jedem sein Stein gesetzt ist u. schöne Bäume kühlen Schatten spenden, dann ruhen all die Wackern "auch in fremder Erde im Vaterland". So nahe nebeneinander all die, die treue Freundschaft geschlossen in Not u. Gefahr! Und wie der Kirchhof angelegt ist! So könnens nur deutsche Kameraden mit all ihrer Liebe, ihrer Treue! Und mancher, mancher, der später das Grab eines lieben Gefallenen aufsucht, wird mit tiefer Dankbarkeit derer gedenken müssen, die ihren Kameraden solche Ruheplätze schufen. Und ganz sicher wird mancher Lipper später seine Schritte zum Friedhof in Illies lenken.
Und nun von unseres lieben Toten letzten Augenblicken. Am 17. Mai morgens ists gewesen, als die Granate in die Deckung geschlagen ist. Der Sanitätsunteroffizier ist sofort zur Stelle gewesen. Das Sprengstück hat Theo von hinten getroffen und das linke Schlüsselbein weggerissen. Korte sieht den Herzmuskel, die beiden Herzklappen geöffnet. Er drückts mit Mull zu, und Theo bleibt noch 20 Min. bei vollem Bewußtsein. Er wiederholt immer: "Grüßen Sie meine arme, arme Braut - meinen lieben Vater - meine Mutter lebt schon lange nicht mehr." Und dann, Korte, ich habe noch etwas auf dem Gewissen. So kann ich nicht ruhig sterben. Der Oberleutnant Limes (genau weiß ich den Namen nicht) hat mich, als ich gern Offizier werden wollte, gefragt, ob ich Offiziersaspirant gewesen sei. Ich habe "Ja" gesagt. Und so bin ich Offizier geworden. Ich bin aber nicht Offiziersaspirant gewesen. Sagen Sie das dem Oberleutnant bitte! Er möge mir vergeben. Offizier konnte ich nicht werden, weils meine Vermögensverhältnisse nicht erlaubten." Dann hat Theo gebetet und hat noch gesagt: "Die Welt war zu schlecht, zu gottlos. Darum kommts nun so." Dann sind die lieben, guten, treuen Augen gebrochen. Und 10 Min. später hats Herz zum letztenmal gezuckt. In Kortes Armen ist er hinübergeschlummert ins bessere schönere Leben. Der Wackere hat ihm die Augen zugedrückt und er, der Hundert anderen im letzten Augenblick schon beigestanden, hat weinen müssen. So lieb hat er Theo gehabt. So lieb haben ihn aber alle Leute der Komp. gehabt, ihn, den allzeit Lebensfrohen und Freundlichen. Und dann ist Korte zum Oberleutnant L. gelaufen und hat Theos letzte Bitte erfüllt. Und der hat gesagt: "Wenn alle Offiziere so wären, dann brauchen sie nicht Offz.-Aspiranten gewesen sein!" [...]
Jetzt ists 3/4 2. Morgen mehr, Gott schütze Euch!