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Flugblätter aus London 1943/44

12.07.1943
Beesedau, Berlin, Deutschland

In Deutschland war 1943 die Zeit der siegreichen Sondermeldungen endgültig vorbei. Die Berichterstattung erfolgte nun, da es nur noch Niederlagen gab, recht zögernd und nicht ausführlich. An der Ostfront gewann die Rote Armee immer mehr an Boden, so wurde dann im Wehrmachtsbericht oft von „planmäßigen Absatzbewegungen“ gesprochen. Mein Vater hatte keinen Zweifel, dass bei den verbotenen ausländischen Sendern die wahrheitsgemäße Berichterstattung gegeben war. Täglich hörte er jeden Abend Radio, ich begriff bald, dass es die verbotenen Feindsender waren. Ich fand oft einen Anlass zum Vater zu gehen und verblieb gerne eine Weile dort. Daraus wurde bald eine Gewohnheit, dass ich bei den Nachrichtensendungen verblieb. Neben dem Radio lag mein Schulatlas und wir verfolgten die militärische Lage.

Meistens hörten wir um 20.00 Uhr BBC London, am Beginn mit den vier dröhnenden Paukenschlägen auf Kurzwelle. Ebenso konnten wir die “Stimme Amerikas“ gut hören. Die Erkennungsmelodie von damals habe ich für immer noch in den Ohren. Auch Radio Moskau konnten wir empfangen. Wir kannten die Sendezeiten in deutscher Sprache. Aus Moskau erfuhren wir von der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. Ich erinnere mich, eine Ansprache des gefangenen deutschen Generals Walter von Seydlitz gehört zu haben. Bald meldete sich ein „Soldatensender West“, der immer den Zusatz „im Bereich der Oberbefehlshaber West und Norwegen“ verkündete. Dann erst folgte der Marsch: “Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren“. Dann folgten die Nachrichten mit vielen Entlarvungen des Nazirundfunks. Ich vermute, dass dieser Sender in England stationiert war, Genaues habe ich nie gehört. Bei BBC wurden auch originelle Beiträge gesendet, z.B. von Kurt und Willi. Einer glaubte noch immer an den Sieg, der andere hatte da schon immer seine Zweifel.

Meine Kenntnisse in Geographie haben beim Verfolgen der Kriegsschauplätze sich so herausgebildet, dass ich heute aus der Erinnerung noch Vieles nachvollziehen kann. Wir erfuhren von den Feindsendern auch von der Existenz der Konzentrationslager und der Ermordung der Juden, auch im besetzten Europa. Vater sprach sich oft mit Gleichgesinnten und Hitlergegnern aus, die mir auch bekannt waren. Bei solchen Dialogen war ich auch schon mal neugierig. Denn oft fanden solche Gespräche in unserer Wohnung statt. Nie habe ich darüber zu jemand ein Wort verloren. Manchmal ging es laut zu, so dass die Mutter mahnte, ruhiger zu sein.

Mitte des Jahres 1943 fand ich im Umfeld die ersten Flugblätter der Alliierten, die Flugzeuge zur Nachtzeit abwarfen. Das war eine sehr willkommene Lektüre. Da waren die Doppelblätter der „Luftpost“ aus England und die Doppelblätter „Sternenbanner“, herausgegeben vom US-Kriegsinformationsdienst in London. Zu speziellen Themen gab es in der Regel ein halbes Blatt. Sechs Flugblätter sind mir noch geblieben, diese sind seit 7o Jahren in meinen Besitz. Ich suchte sie fast nach jedem nächtlichen Fliegeralarm, aber auch nicht immer waren welche zu finden. Ich fand sie auch oft vom Wind getrieben in Gräben, Gruben, Furchen und Senken, ich kannte schon meine Quellen. Mein Freund Karl-Heinz war meistens dabei. Mein Vater las interessiert den ganzen Inhalt. Vertraute Personen, die zu uns kamen, erhielten öfters ein Flugblatt. Ebenso gab ich meinen Freund Edmond, einem französischen Kriegsgefangenen, der auf der Nachbarschaft zur Arbeit eingeteilt war, unbedingt jedes Mal bevorzugt ein Blatt davon. Er konnte nach drei Jahren schon gut deutsch lesen. Dieser nahm es nach Feierabend mit ins eingerichtete Lager in unserem Ort.

Einmal fand ich ein und dieselbe Ausgabe massenweise entlang des Schutzdammes zur Saale. Schon beim Aufnehmen schaute ich in das Gesicht des uniformierten Dr. Goebbels mit weit aufgerissenem Mund. Er brüllte die Worte hinaus: “Wollt ihr den totalen Krieg“ und das vor einer großen Zahl von Naziführern im Berliner Sportpalast. Im Blatt hieß es dann: „Ein begeistertes Ja war die Antwort der Naziversammlung“. Dann erfolgte die Antwort der alliierten Seite. Leider habe ich von dieser Ausgabe kein Flugblatt mehr, ich sehe es noch vor meinen Augen und erinnere mich an den so markanten Teil des Textes. Ich fand, das war eine gute Agitation, aber die gewünschte, erhoffte Wirkung wurde damit nicht erzielt. Einmal fegte ich einem Blatt im Wind hinterher, als ich es in die Hand nahm war es der „Völkische Beobachter“!  Die bedeutendste Nazizeitung! Zerfetzt vom Wind.

Es ergab sich Mitte 1944 als Freund Karl-Heinz eiligst auf unseren Hof gestürmt kam und rief: „Schnell abhauen, Flugblätter weg, Polizist Brettschneider kommt“! Sofort schloss ich die Hoftür ab, versteckte meine Flugblätter in Eile an einen ungewöhnlichen Ort, und wir verließen das Grundstück durch den offenen Garten. Wir versteckten uns in der Ruine einer alten Fabrik. Tatsächlich hatte ein Mädel aus unserem Ort den Rad fahrenden Polizisten zugerufen, dass ein Richter und ein Müller Flugblätter hätten. Das nahm Herr Brettschneider zum Anlass, bei der Mutter von Karl-Heinz ernsthafte Nachfrage zu halten. Die Mutter zeigte sich empört und überzeugt, dass so etwas doch wohl nicht in Frage käme. Die Mutter wusste tatsächlich nicht, dass Freund Karl-Heinz seine Flugblätter in einen unbenutzten Zeichenblock eingeschoben hatte. Abends gab ich meine Blätter vom Feind ein anderes Versteck, ich vergrub sie in einer Blechschachtel im Garten. Trennen konnte ich mich nicht davon. Der Polizist war am selben Tage und danach auch nicht bei uns. Natürlich war ich recht froh darüber. Zunächst hätten wir versucht uns herauszureden.

Mit Vater erlebte ich am Radio am 6. Juni 1944 noch die Landung der Alliierten in der Normandie. Unser Freund Edmond hatte es uns signalisiert, er freute sich sehr, er sah seine Heimat schon bald befreit. Seit 9 Uhr waren wir bei BBC und erlebten hier die lange ersehnte zweite Front. Vater sah einen Hoffnungsschimmer, dass die verhasste Naziherrschaft bald zu Ende geht. Überraschend und unerwartet wurde Vater am 28. Juni 1944 mit fast 46 Lebensjahren eingezogen. Er hoffte, dass es doch wohl nicht mehr lange dauern wird, dennoch war er verzweifelt. Mutter und ich brachten ihn bis nach Halle. Auf Bahnsteig 1 liefen zwei SS-Männer mit jeweils einem Hund an der Leine. Vater sagte, das sind sie, die vor keinem Verbrechen zurückschrecken. Seine Bahnfahrt in den Krieg, winkend mit Tränen in den Augen, war ein Abschied für immer.

06.03.2013 в 13:44


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