Im Juli 1946 kam die Entscheidung. Man transportierte uns zunächst in ein Lager in Frankfurt an der Oder, wenig später dann in Güterzügen Richtung Osten. Dreistöckige Pritschen, in der Waggontür ein Rohr mit Trichter als Toilette, Trockenbrot aus Säcken mit kleinen schwarzen Krümeln, die von Mäusen beim Knabbern hinterlassen wurden, so ging es quer durch Russland bis zum Kaukasus. In Ordschonikidse – das inzwischen wieder Wladikawkas heißt – lud man uns aus, in Lastwagen ging es durch malerische Schluchten zu dem Ort Kasbek, dort in eine Kaserne, wir waren am Ziel. Hoch über uns leuchtete der Riese Kasbek mit seinem weißen Gipfel. Ich war wie benommen und dachte: Wenn es doch nur eine Oper wäre, die Kulissen eignen sich wirklich für einen tragischen Abgang.
Dieses Lager war nur einige Tage unser Aufenthalt, dann ging es hinauf auf die Passhöhe, wieder durch Schluchten, durch Tunnels, an felsigen Abhängen mit gelbroten Quellen, bis in 2350 Meter Höhe. Hier oben gab es noch eine Kaserne, hier blieben wir bis in den Herbst und arbeiteten sowohl auf der Nord- wie auf der Südseite an Tunnelanlagen gegen Schneelawinen, im Norden aus Beton, im Süden aus Holz. Einer unserer Offiziere war Arzt, er versorgte uns, so weit die Medikamente reichten. Mangelkrankheiten griffen um sich, eines Tages brach er in seinem Behandlungsraum weinend zusammen. Die Russen waren empört, doch dann wurde die Versorgung besser. Ich selbst hatte an der Hand eine Phlegmone, die immer größer wurde. Der Arzt half mir mit Sulfonamid-Tabletten, die ich auf der Wunde zerkrümeln sollte. Außerdem wurde ich mit anderen Halblahmen eines Tages zu einer Kolchose im nördlichen Vorland abtransportiert.
Wir hausten mitten auf dem Acker in einer ausgehobenen Grube mit schrägem Strohdach, unsere Küche bestand aus einem großen Topf auf Steinen, das Wasser kam in Benzinfässern und roch nach Benzin, täglich gab es Kartoffelsuppe, die auch nach Benzin roch und schmeckte. Unsere erste Arbeit war Maisernte. […]
Die Tage vergingen, trotz der benzinhaltigen Kartoffelsuppen-Kur – sicher auch mit Anteilen von Blei und Benzol – hatten wir uns richtig erholt. Die Ernte war eingebracht, auch der Kohl, und wir kamen wieder auf die Passhöhe der Grusinischen Heerstraße. Hier ging die Arbeit noch eine ganze Weile weiter, aber es wurde kälter. Die Kaserne hatte ja keine Fenster, nur Fensterhöhlen, zum Schlafen zog man sich nicht aus, sondern zog alles an, was man hatte. Es war sowieso besser, alle Hemden und Unterhosen anzuziehen, bei den Gepäckkontrollen wurde manches überzählige Stück requiriert. Als zusätzliche Kleidung bewährte sich auch Zementpapier, anstelle von Strümpfen oder Fußlappen benutzten wir es schon lange, jetzt in der Kälte bewährte es sich auch am Leib zwischen den Hemden anstelle eines Pullovers.
Anfang Oktober brachen wir dann zum Ortswechsel auf. Wir fuhren nach Süden, herrliche Blicke durch das Gebirge, auf endlose Wasserfälle, in die fruchtbare Ebene, in ein Märchenland, das Georgien heißt. Unser Ziel war Gori, die Geburtsstadt Stalins, kein Märchenprinz, sondern ein Massenmörder, der immer noch in Moskau auch über uns den Daumen nach unten richten konnte. Sein Geburtshaus, eine kleine Hütte, stand jetzt unter einem Baldachin, nicht weit davon stand ein Neubau, das Stalin-Museum – es stand verlassen und verschlossen da. Für uns gab es ein Barackenlager, unsere Arbeit fand sich an Hügeln vor der Stadt, hier sollten Wasserbehälter errichtet werden, wir mussten mit Hacke und Schaufel den steinigen Grund dafür vorbereiten. In der Ferne übten russische Soldaten, jeden Morgen zogen sie erst einmal singend über ihren Übungsplatz. Sie singen wieder Lied vom toten Hund, stellten wir fest.
Als der erste Schnee kam, mussten wir schnell zum Bahnhof, Zuckerrüben verladen. Sie waren schon erfroren, wir nahmen einige mit, eine Delikatesse, wenn man wirklich Hunger hat, und den hatten wir immer. Der Winter 1946-47 war angekommen, er sollte auch hier ein starker Winter werden, viele alte Buchsbäume erfroren. Ich war bei der Beerdigung eines Kameraden, der unerwartet in einer Winternacht verstorben war. Für die Kriegsgefangenen in Gori war ein kleines Feld als Friedhof reserviert worden.