Am 12. Januar 1945 startete die Rote Armee an der Weichsel in Polen eine große Offensive. Am 27. Januar wurde bereits das KZ Auschwitz befreit. Im Warthegau verließen massenhaft fluchtartig Bauern und Bürger ihre Wohnsitze. Unzählige Trecks mit Pferd und Wagen zogen oft in grimmiger Kälte übers Land bis nach Mitteldeutschland. Hier sah ich sie auf dem Schulweg nach Alsleben in langen Kolonnen noch Anfang Februar in Richtung Westen sich bewegen. An meinem 14. Geburtstag, am 23. Februar 1945, eröffneten die Alliierten eine Offensive im Westen, bald überschritten sie den Rhein und erzielten bedeutende Geländegewinne. Die Abschussrampen der V 1 und V 2 wurden überrannt. Die deutsche Verteidigung brach immer aufs Neue zusammen. Es kam die Zeit, in der fast tagsüber Fliegeralarm war, die Tieflieger brausten über unser flaches Gelände Angst und Schrecken verbreitend. Sie griffen rollende Transportzüge und Militärkolonnen an. Ein gewisses Chaos begann sich abzuzeichnen.
Die Front hatte sich schnell genähert, in unserem Ort wurden keine Vorkehrungen getroffen zur Unterstützung der Verteidigung. Allerdings waren immer wieder Soldaten im Ort, es wurden auch Schützenlöcher ausgehoben, sogar in unserem Garten. Abends im Dunkeln verfüllte ich die Löcher wieder. Eine Volkssturmeinheit wurde im Ort nicht gebildet. Die Schulen waren schon geschlossen, sie wurden Lazarette oder Krankenstuben. Wir Jungs aus der Gruppe von Edelweiß-Piraten waren tagsüber unentwegt unterwegs, wir wollten auch dazu beitragen, dass es möglichst zu keinen Kampfhandlungen kommt. Wir spürten bei den meisten Soldaten die Unlust, noch weiter zu kämpfen. So oft wie es sich ergab, nährte ich diesen Gedanken.
Eine HIWI-Einheit mit einem Schild auf dem linken Arm “Lietuva“ (Lettland) war auf dem Schulhof in unserem Ort. Wir hielten uns an der Feldküche auf. Die sehr jungen Soldaten lachten und scherzten in einer fremden Sprache. Plötzlich zogen zwei Jabos (Jagdbomber) über uns ihre Kreise. Bald waren sie über dem Nachbarort westlich der Saale. Es ließ sich gut beobachten, plötzlich sah man zwei Bomben fallen, dann folgten Detonationen und schon sahen wir nur eine dunkle Wolke über den Ort Großwirschleben. Dort wurde eine Panzersperre errichtet, wie sich später heraus stellte, waren es zwei Luftminen gewesen, die Panzersperre war getroffen, es gab 5 Tote und bei einer Häuserreihe im Ort waren alle Dächer abgedeckt. Gegen Abend war ich mit der Saalefähre übergesetzt und sah mir den Schaden an .Der Fährmann war ein guter Bekannter von mir. Wir waren uns einig, dass alles bald ein Ende haben sollte.
Mit der Fähre hatte es schon am nächsten Tag sein Ende. Zwei amerikanische Tiefflieger hatten einen Stau von deutschen Militärfahrzeugen zur Auffahrt der Fähre bemerkt und flogen mehrere Angriffe, bis alle Fahrzeuge brannten. Ich saß mit einem Schulkameraden und zwei Soldaten unter einer Brücke über einem Grabensystem und verfolgte aus nächster Nähe das Ereignis. Die beiden Soldaten waren entweder versprengt oder desertiert. Sie hatten keine Waffen, einer wollte nach Schönebeck, ich riet ihm, sich Zivil zu besorgen. An einem Vormittag traf einmal eine Kolonne mit Fahrrädern am Dorfrand ein. An den Querstangen der Räder waren Panzerfäuste fest gebunden. Ein noch junger Unteroffizier suchte mit mir ein Gespräch. Er frug mich, ob ich schon im Wehrertüchtigungslager gewesen wäre. Ich verneinte diese Frage und sagte, dass ich dort auch nicht hin möchte, weil der Krieg doch schon bald verloren sei. Ich sagte noch zu ihm, dass der Krieg doch in Feindesland gewonnen werden müsste, aber doch nicht in Mitteldeutschland. Da rastete er aus und sagte etwas von pessimistischem Volk, das hier anzutreffen sei. Ich war wohl zu weit gegangen und ahnte schlimme Folgen. Da ertönte eine laute Stimme im Befehlston “Sofort zu mir“. Gemeint war der Unteroffizier, dieser verschwand eiligst um die Ecke. Ich nahm diese Gelegenheit wahr, mich schnell zu entfernen. Die Soldaten begaben sich auf den Weg nach Alsleben, um den dortigen Brückenkopf jenseits der Saale zu verteidigen. So ein fanatischer Soldat war mir noch nicht vorgekommen. Eine außergewöhnliche Erfahrung!
In unserem Edelweiß-Piraten-Bekenntnis, in dem wir nieder schrieben, alles zu tun, um den totalen Krieg nicht zu unterstützen, ordnete sich auch das Bemühen ein, Soldaten zu beeinflussen, sich nicht länger kämpfend zur Wehr zu setzen. Die große Anzahl der Soldaten war kriegsmüde, das war meine Erfahrung dennoch. Bald lagen Wehrmachtskleidung, Waffen und Munition, Panzerfäuste und Stahlhelme außerhalb der Ortschaft herum, es gab nicht zu übersehende Auflösungserscheinungen. Viele Soldaten ohne jede Führung hielten sich im Ort auf, sie nächtigten in den Scheunen bei den Bauern. In meiner Abwesenheit hatten zwei Offiziere in unserem Garten zwei Koffer vergraben, darin befanden sich die Uniformen, sie hatten vorgesorgt und Zivil angezogen. Aktivitäten durch die Nazipartei gab es keine. Bemühungen, einen Volkssturm aufzubauen, waren noch immer nicht zu erkennen. Der Bürgermeister hielt sich zurück, keinesfalls war er ein Fanatiker. Die Sorge blieb dennoch, ob es noch Kampfhandlungen geben würde. Durch Beschuss außerhalb des Ortes war die Stromversorgung schon unterbrochen. Zeitungen erschienen nicht, es gab keinen Rundfunk mehr, erstmalig war ich ohne jede Nachrichtenlage.