Feldpostbrief, 16. September 1916
Im Schützengraben vor Beaucourt sur Ancre
B 6, U. 29., Sonnabend, 16. Septb. 1916, 7 Uhr abds.
Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!
Zwar kam von Dir gestern abend keine Post, aber Dein und Bubis liebes Bild reichen vorläufig hin, so etwas nicht zu schwer zu empfinden. Die schöne Photographie habe ich immer vor mir auf dem Tische, und abends fällt mein letzter Blick auf sie. Ich kann mich an meinem Jungen nicht satt sehen und meine so oft, Bub könnt's garnicht sein, der da so groß und verständig vor mir steht. Alle freuen sich über das Bild. Wie dem Jungen der Anzug sitzt, sein Höschen, sein Kittel! Und wie selbstverständlich und frei ist seine Haltung! Freust Du Dich nicht auch immer wieder über Deinen lieben Jungen?
Jedesmal, wenn draußen Trommelfeuer einsetzt, dann werfe ich noch einen Blick auf Euch beide. Dann weiß ich, für wen ich dem Tode ins Auge schaue, und dann stecke ich das Bild in meine Brieftasche. Ich möcht's im letzten Augenblicke bei mir haben u. auch, wenn man in Feindes Hand geraten sollte. Das Bild würde über vieles weghelfen.
Vom Angriff gestern morgen erzählte ich Dir schon. Gestern abend wiederholte sich dieselbe Sache. Diesmal ging's gegen die 12. Komp. links von mir. Eine starke englische Patrouille wollte sich dort heranmachen, wurde aber früh genug bemerkt u. war bald erledigt. Ein engl. Leutnant mit seinem Burschen wurde gefangen genommen. Ersterer schwer verwundet. Er ist auch wohl bald danach gestorben. Gleichzeitig kam auf meinen Abschnitt ein wahnsinniges Minen- und Artilleriefeuer. Ich hatte mich gerade todmüde zur Ruhe gelegt. Euer Bild neben mir. Im nächsten Augenblick steckte ich wieder in Waffen und unterm Stahlhelm. Im gleichen Augenblick erzitterte der ganze Unterstand, u. die Treppe herunter kamen Mengen von Steinen und von Geröll. Eine schwere Granate hatte den Eingang getroffen. Gut, daß 20 m weiter rechts noch ein zweiter Ausgang war! Als nach 1/2 Stunde das Feuer schwieg, haben sofort 10 meiner Leute mit den Aufräumungsarbeiten beginnen müssen. Und heute morgen war die Treppe wieder frei. Wie hätte man früher gezittert u. gebebt bei so etwas! Heute denkt man nichts mehr dabei. Man lebt ja ständig in Todesgefahr.
Aber wie sehen meine schönen Gräben wieder aus! Die ganze Nacht mußte gearbeitet werden, damit sie wieder gangbar wurden.
Die Strafe folgt jetzt schon. Gerade wurde ich gerufen, weil wir einen Gasangriff auf Thiepval machen. So etwas habe ich so deutlich noch nie gesehen. Der giftige grüne Gasdampf kriecht langsam über die englischen Linien weg, Tod bringend und Verderben. Und unsere Leute stehen und reiben vor Vergnügen die Hände und machen faule Witze. So macht der Krieg. Der Engländer würd's ja auch gewiß nicht anders machen. Jetzt zittert und bebt man dort vor unserm Angriff. Und die englische Artillerie legt ein Sperrfeuer auf unsere Gräben an der Höhe links von Thiepval, wie ich es auch noch nicht gesehen. Es ist schaurig schön. Und dabei geht im Westen friedlich u. still wie immer an schönen Septemberabenden die Sonne unter, als sähe sie nichts von all dem Blut und Jammer u. Tod.
Gestern hat man mir nun auch meinen braven fleißigen Feldwebel Leutnant Reineke genommen. Er ist Verpflegungsoffizier des Bataillons geworden. Ich gönne ihm den schönen Posten, aber er wird mir noch lange fehlen.
Ich muß nun noch schnell vorn zur Kompagnie. Leb wohl, Liesi, u. "Gott befohlen!" Ich bin und bleibe mit herzlichem Gruß u. Kuß für Dich und unsere Buben in treuester Liebe stets
Dein dankbarer Paul.