Zwischenstation in Marseille
30. 9. 1915. Um 6 Uhr wurden wir geweckt, dann Apell. Diejenigen, die wollten, konnten sich Essen aus einem in der Nähe gelegenen Hotel holen lassen, es waren fast alle. Kaffee 40 ct., Mittagessen und Abendbrot je 2 Fr. Um es vorweg zu nehmen, das Essen war an und für sich nicht schlecht. Aber wie mußten wir essen. Kleine Teller, das war das einzige, was man uns lieferte. Wie die wilden Tiere nahmen wir mit Fingern und Zähnen das Essen zu uns. Den Wein tranken wir in Ermangelung von Trinkgefäßen aus Konservenbüchsen, die wir uns während der Eisenbahnfahrt zurecht gemacht hatten. Es war furchtbar. Man kam sich so gemein, so elend, gar nicht mehr wie ein gebildeter Mensch vor. Dazu die kleinen Schikanen der aufsichtsführenden Sergeanten. Am Tage konnten wir 30 Minuten auf dem kleinen Hof spazieren gehen, wir mußten antreten, beim Essen nur auf Kommando oder Pfiff hinsetzen, aufstehen, Wendung machen und herausgehen. Dazu kamen die furchtbaren Abortanlagen. Ein hinter einem Bretterverschlag in demselben Saal, in dem wir schliefen, aufgestellter Kübel diente Tag und Nacht zur Verrichtung aller Bedürfnisse. Wie es da bald aussah und roch, kann man sich denken.
Ich sah zum Fenster hinaus. Vor mir lag die Kirche Notre Dame mit ihrer goldenen Marienfigur auf dem Turm. Dieselbe Kirche, auf der ich 1910 als freier Mann gestanden hatte und über Marseille geblickt hatte, zu den Bergen hinauf und dem tiefblauen Meer. Damals hatte ich mir nicht träumen lassen, daß ich fast genau 5 Jahre später als Kriegsgefangener hinter Gefängnismauern durch die vergitterten Fenster zur Kirche hinauf blicken würde.
1. 10. 1915. Als man allmählich ruhiger wurde, betrachtete man seine Umgebung etwas näher. Wir waren in einem Saal des Zuchthauses von Fort St. Nicolas untergebracht. Wie Verbrecher; denn Verbrecher hausten in den um- und unterliegenden Räumen. Männer, Weiber, Neger aller Stämme, fahnenflüchtige Soldaten. Ein widerliches Bild war es, wenn wir sie vom Gefängnishof an den Fenstern sahen. Und wir, deutsche Offiziere, unter diesem Gesindel.
Es lagen in dem Saal 76 Offiziere, Feldwebelleutnants und Offizierstellvertreter. Auch unter diesen Leuten, mit denen das Schicksal zusammen geworfen hatte, sah ich mich etwas genauer um. Oft mußte ich staunen. Hier fühlte man zum ersten Male, was sich später in Corte noch deutlicher zeigte, was alles, nicht gerade zum Heile und zum Nutzen der Armee in letzter Zeit Offizier geworden war. Diese Leute zeigten bei allen nur möglichen Gelegenheiten ein so würdeloses, bauernhaftes Benehmen, daß es mir oft die Schamröte ins Gesicht trieb. Sie schlugen sich fast um das Essen, warfen mit Worten um sich, die sonst nur in den niederen Schichten der Bevölkerung üblich sind. Man erspare mir, hierüber noch weitere Worte zu verlieren. Wir aktiven Hauptleute schlossen uns dann sofort näher zusammen und traten nur aus unserer Abgeschiedenheit heraus, um diese Leute zu belehren.
Am Vormittag des 2. 10. wurden wir vom Inspekteur der Gendarmerie in Marseille besichtigt. Ein ernster, aber anscheinend vornehm denkender Mann. Er bedauerte, daß wir auf der Reise so schlecht behandelt seien; es war ihm fürchterlich peinlich. Später haben wir gelernt, diese Leute sofort richtig zu beurteilen. Alles war Pose, alles Mache! Die Gemeinheit kam dann später zutage. Sie logen alle und spielten alle Theater. Das haben wir später am eigenen Leibe erfahren, als wir die Neger näher kennen gelernt haben. Der Inspekteur verkündete uns, daß wir nach Corte auf Korsika gebracht würden und betonte, daß wir dort standesgemäß untergebracht würden. Nun, wir waren sehr mißtrauisch geworden und erwarteten trotz der Versicherungen nicht viel. Was französische Worte und Versicherungen bedeuteten, hatten wir ja zur Genüge an unserem eigenen Leibe erfahren. So manches hatten wir hier auch noch von anderen Kameraden gehört, die an anderer Stelle gefangen genommen nach Chalons gebracht waren. Dort hatte man ihnen alles, auch Geld und Uhren fort genommen, hatten sie bespieen und beschmutzt, im Triumphzug durch die Stadt geführt und im Zuchthaus untergebracht.
3. 10. 1915. Der Tag des Abtransportes war herangekommen. Ich hatte meine Sachen, Rock, Hose und Mantel, durch die letzten Tage des Kampfes von eigenem und fremden Blut, Schmutz und Staub besuldet, durch den Aufenthalt im Lager und dem Transport im Viehwagen fürchterlich beschmutzt, so gut es ging, gereinigt, die Schuhe mit einem Speckstück geschmiert. Auch hatte ich mich rasieren können, da man mir wunderbarerweise meine beiden Rasiermesser gelassen hatte. Durch die Vermittlung des Dolmetschers Levy war ich in den Besitz von Zigarren gekommen, hatte mir ein Hemd, ein Handtuch und einen Trinkbecher gekauft.
Am Nachmittag wurden wir dann, nachdem uns der komm. General des 15. AK besichtigt hatte, unter Begleitung im Gefängniswagen zum Hafen geschafft. Es war eine interessante Fahrt. Die Stadt wimmelte von Soldaten. Franzosen weniger, umso mehr Engländer, schwarze und weiße, Neger, Araber und anderes Gesindel. Im Hafen lagen viele Schiffe und an den Kais waren gewaltige Massen Kisten, Ballen und Waren aller Art aufgespeichert, die nicht weiter verschickt werden konnten. Der Handel war völlig ins Stocken geraten.
Um 15.30 Uhr kamen wir an der Anlegestelle des Dampfers an. Es war ein kleines Ding, jung auch nicht mehr, er trug den Namen "Pelion". Sofort wurden wir im Heck unter Deck verstaut. Hier sah man zum ersten Mal, daß wir erwartet waren. Es war alles, soweit möglich, sauber eingerichtet. Jeder hatte eine Matratze, ein Kopfpolster, eine Decke, die sogar neu angeschafft war. Wir bekamen sogar zu essen, Teller mit Messer und Gabel, es war fabelhaft. Allerdings hatte ja jetzt der Kommandant des Schiffes das Sagen, er gestattete uns auf unsere Bitte sogar am Tisch bis 21 Uhr zu rauchen. Um 16 Uhr legte der Dampfer dann ab. Es schien eine geringe See zu stehen, Gott sei Dank. Ich bin auf meinen Reisen ja nie seekrank geworden, aber hier und zu dieser Zeit, an Körper und Nerven geschwächt, wäre ich es sicher geworden. Mein Magen war Dank des energischen Eingreifens von Dr. N. während der Ruhetage in Marseille einigermaßen wieder hergestellt. An Deck durften wir nicht an diesem Tage.
4. 10. 1915. Erst an den darauffolgenden Tage gestattete man uns, in zwei Raten je eine halbe Stunde auf dem oberen Deck an der Kommandobrücke ein wenig frische Luft zu schnappen. Es war ein herrliches Wetter, im Süden sah man die Felsspitzen Korsikas emporsteigen.