Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich mit Altersgefährten im Frühjahr 1941 in die Schule nach Beesenlaublingen einbestellt. Nach dem Vortrag eines Lehrers und sehr wahrscheinlich Mitgliedes der NSDAP erhielten wir unsere Ausweise. Man konnte es so sehen, dass wieder eine Etappe des Heranwachsens erreicht war. Im Kriege gab es Kleiderkarten, meines Wissens nach gab es Uniformteile für das Jungvolk auch nur, wenn dann an der Kleiderkarte eine Anzahl von Punkten abgeschnitten wurde. Jedenfalls bemühten wir uns nicht darum. Etwa nach einem Jahr bekam ich das braune Hemd mit Halstuch und Knoten von meinem im Krieg gefallenen Cousin. Das blieb dann auch das einzige Uniformstück bis zum Ende. Zum 12. Geburtstag bekam ich vom Großvater Koppel und Schulterriemen, das Material war im Krieg ersatzweise aus Pappe gepresst. Mein Vater war zu dieser Zeit noch zu Hause und nicht im Krieg, er riet mir ironisch, damit nicht in den Regen zu gehen. Er sagte aber erwartungsvoll und mit Bestimmtheit, dass ich nicht eines Tages vom sogenannten Dienst nach Hause kommen und sage solle, ich sei im Jungvolk etwas geworden. Bald einmal musste ich vortreten, um die Frage zu beantworten, ob ich es mir zutraue, Rottenführer zu werden. Mit einem Wort beantwortete ich laut die Frage und das war: “Nein“. Dann hieß es: “Wegtreten“! Und ich reihte mich ein. Ich wurde nie wieder gefragt.
Jeden Mittwoch-Nachmittag und jeden zweiten Sonntag war Dienst. Sonntags wurde ich mal mit noch einem zweiten Jungen zur Straßensammlung für das Winterhilfswerk (WHW) los geschickt. Eines Sonntags war der Bannführer aus Halle da, wir wunderten uns, weil dieser eine Wehrmachtsuniform trug. Wichtig gab er bekannt, dass in der Nacht feindliche Fallschirmspringer in unserem Raum abgesetzt worden seien. Damit im Zusammenhang wurden Aufträge erteilt. Zunächst war ich erschrocken und dachte, jetzt schicken sie schon die Kinder los. Mein Jungschaftsführer und ich bekamen den Auftrag zu erkunden, wie hoch die Kirche in Beesedau und wie breit eine Brücke über einen Altarm der Saale sei. Jetzt war uns klar, dass wir keine Fallschirmjäger des Feindes treffen würden. Der Jungschaftsführer wohnte in der Nähe der kleinen Brücke und holte von zu Hause erst einmal ein Lineal, und wir erledigten den einen Auftrag, dann frugen wir an Ort und Stelle nach der Höhe der Kirche in Beesedau. Es war organisierter Unsinn, aber wir meldeten: Auftrag erfüllt. Der Bannführer aber hatte schon das Weite gesucht.
Ernster war ein Vorfall wieder sonntags. Ich hatte mich entschieden, niemals mehr zum Dienst zu gehen, da werde ich doch von einem Pimpf in Uniform im Vorwurfston angesprochen, warum ich beim Dienst gefehlt habe. Ich antwortete ungehalten. “Du kannst mir den Buckel runter rutschen mit deiner Affenuniform.“ Daraus wurde eine Balgerei, getrennt wurden wir von einem vorbei gehenden Mann. Die Eltern des Angreifers fühlten sich aber mit dem Nazi-System eng verbunden und versuchten, Schritte zu unternehmen, damit ich zur Rechenschaft gezogen werde. Zwei Freunde seit Kindertagen hatten über ihre Eltern davon gehört und warnten mich freundschaftlich und nachhaltig, mich in der Öffentlichkeit vorsichtiger und überlegter zu verhalten. Dann erwähnten sie noch, dass ich meiner Mutter Ärger und Kummer bereiten würde. Das Argument sah ich ein.
Im Spätsommer 1944 erlebte ich unmittelbar, wie zwei flüchtige Ostarbeiter, nachdem sie die Saale durchschwommen hatten, aufgegriffen wurden. Sie wurden von einem Polizisten regelrecht zusammen geschlagen. Sie hatten sich bei der Ergreifung nicht gewehrt. Das hat mich sehr empört, insgeheim fasste ich nochmals den Entschluss, niemals mehr zum Dienst zu gehen. Mehrmals sollte ich geholt werden, ich gebrauchte immer Ausreden. Einmal erhielt die Mutter Post, eine geringe Geldstrafe des Sohnes wegen aufgrund mehrfachen Fehlens zum Dienst. Es wurde bezahlt. In den noch folgenden Monaten ließ man mich in Ruhe, es ging wohl alles schon durcheinander, die Führungsfunktionen wechselten oft. Dennoch gab es Versuche meiner Schulkameraden, mich im eigenen Interesse doch wieder zu beteiligen. Sie meinten, wenn man nicht in der Hitlerjugend sei, bekommt man keine Ausbildungsstelle bei der Berufswahl. Ich sagte ihnen, sie sollten sich um mich keine Sorgen machen. Es würde sowie bald alles anders sein.
Als Letztes wurde ich mündlich aufgefordert, mich am 1. März 1945 auf dem Saal in Beesenlaublingen zur Aufnahme in die HJ einzufinden. Niemand hätte mich dort hingekriegt. Mein braunes Hemd war schon längst außer Dienst gestellt. Mein Freund Edmond, ein französischer Kriegsgefangener im Ort, hatte vom linken Ärmel des braunen Hemdes schon im Herbst 1944 das Dreieck „Mitte – Mittelland“ und den runden Blitz mit dem Taschenmesser mit meiner Zustimmung entfernt.